Pflege: Für Angehörige kein leichtes Unterfangen

Dec 20, 2020 |
sommer

Es passierte im Sommer 1997. Meine Nachbarn, beide Lehrer, waren gerade im Vorruhestand, als er einen schweren Schlaganfall erlitt. Halbseitig gelähmt, die Sprachfähigkeit extrem beeinträchtigt, war es von einem auf den anderen Tag vorbei mit der Selbständigkeit des ehemaligen Berufsschullehrers. Auch das Leben seiner Frau, die noch vor wenigen Wochen mit Leidenschaft Deutsch und Geschichte unterrichtet hatte, war nun plötzlich ein anderes. Die Folgen des Schlags ließen sich praktisch nicht mehr beheben, trotz mehrerer Monate in einer guten Reha-Klinik. Als ihr Mann zum ersten Mal wieder nach Hause kam, war es schlimm. Ein Vierteljahr lag er praktisch nur oben in seinem Zimmer. Dann ging es in winzig kleinen Schritten aufwärts. Dass er heute wieder Treppen steigen kann, wenn auch nur mit größter Mühe, hat er der intensiven häuslichen Krankengymnastik zu verdanken, außerdem seiner Frau und seinem Willen. Beide leben seit über 35 Jahren in einer zweigeschossigen Eigentumswohnung. Die Umgebung wirkt ruhig und harmonisch. Der Eindruck von Kleinstadt und Ordnung wird durch die Atmosphäre in der Wohnung verstärkt. Sie vermittelt den Eindruck einer sehr disziplinierten, fast schon strengen Frau. Ihr Mann hingegen strahlt – trotz seiner halbseitigen Lähmung und der starken Sprachstörung – etwas Verschmitztes und Lebenslustiges aus.
Das Ehepaar hat keine Kinder. Aufgrund der guten finanziellen Situation – beide zusammen verfügen über ein monatliches Nettoeinkommen von rund 5.000 Euro – können sie sich mit allen notwendigen Diensten und Sachgütern versorgen. Das ist natürlich ein großer Vorteil, den nicht jeder genießen kann. Sie steht morgens gegen 6.45 Uhr auf und zieht sich rasch an. Um 7.15 Uhr kommt meist schon eine Pflegerin oder ein Pfleger der Diakonie, am Wochenende um 8.00 Uhr. Ihr Mann ist morgens der erste Patient. Wir wollten es so, weil die ersten auf dem Pflegeplan zu sein heißt, eine verlässliche Zeit zu haben. Ginge es vollständig nach den Wünschen und Bedürfnissen der beiden, kämen die Diakoniemitarbeiterinnen erst später. Das haben sie zunächst auch ausprobiert: Na ja, wir haben zum Beispiel halb neun gesagt, aber dann war es mal halb zehn, mal zehn. Da hatte ich schon alles selber gemacht.

Die Stammpflegerin betreut ihn schon seit über sechs Jahren. Sie holt ihn morgens aus dem Bett, bringt ihn zur Toilette, gestützt auf eine Gehhilfe oder den Rollator, den er von der Krankenkasse bekommen hat. Meist hat seine Frau das aber schon erledigt. Der Pflegedienst hat rechnerisch 45 Minuten für Körperpflege und Ankleiden, beziehungsweise zweimal wöchentlich 70 Minuten, wenn Badetag ist. Dies sind die standardmäßigen Leistungen der Krankenkasse bei Patienten mit Pflegestufe III. Die zur Verfügung stehende Zeit reicht in der Regel aus. Während ihr Mann vom Pflegedienst versorgt wird, bereitet seine Frau das Frühstück vor. Im Anschluss an die Körperpflege hilft sie beim Anziehen und führt ihn mit der Unterstützung seiner Frau die Treppe hinunter ins Esszimmer. Obwohl die erfahrene Pflegekraft das täglich macht, steht dieser Gang doch immer wieder eine besondere Anstrengung dar. Manchmal geht es gut, aber manchmal, dann hat er seine Beine auch nicht unter Kontrolle. Da ist das eine richtige Angstpartie.
Im Esszimmer angekommen, wird meist noch ein bisschen geplauscht, auch gegen die Uhr. Letztendlich findet hier eine Art Arbeitstausch zwischen der Ehefrau und der Pflegerin statt: Sie entlastet die Pflegerin, indem sie ihrem Mann schon mal beim Aufstehen hilft und ihn zur Toilette bringt. Dafür kann sie sich nach der Grundversorgung noch ein paar Minuten Zeit nehmen. Eigentlich, sagt die Pflegerin, habe sie kaum genügend Zeit für alle pflegerischen Aufgaben. Es sei eben sehr wichtig, die Leute zu kennen, damit sich zum einen ein Vertrauen aufbaut und zum anderen Routinen entwickeln können. Beides zusammen spart Zeit: Es gibt Tage, wo man wirklich länger braucht. Aber generell muss ich sagen, ist das selten der Fall. Meistens gehe ich gegen fünf vor acht hier wieder weg, manchmal bleibt mir auch schon mal eine Viertelstunde, die ich irgendwo in Petto habe für einen anderen Patienten

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